Dr. Ilse Wehrmann

Im Gespräch mit Frau Dr. Wehrmann – „Wie geht Revolution für Kinder?“

Dr. Ilse Wehrmann

13.05.2019

Mit Ihrem Impulsvortrag „Keine Bildung ohne Beziehung!?“ hat Dr. Ilse Wehrmann das Auditorium unseres Sprach-Fachtages 2019 berührt, inspiriert und motiviert. Sie führte nicht nur klar und umfassend vor Augen, wie wichtig die Bindung und Beziehung zwischen Pädagog*innen und Kinder ist und welche Verhaltensmuster diese Bindung fördern, sondern rief auf, die politischen Aspekte eine Qualitätsverbesserung zu sehen und für eine Veränderung zu kämpfen.

Dr. Ilse Wehrmann ist Sachverständige für Frühpädagogik, Mitglied im Beirat „NUBBEK-Studie“, im BDA/BDI-Arbeitskreis „Frühkindliche und schulische Bildung“ und Expertin im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin. 

Wir danken Frau Dr. Ilse Wehrmann, dass Sie sich bereit erklärt hat, die vielen Fragen des Auditoriums im Nachgang in einem Telefoninterview zu beantworten. Das Interview führte Anne Zschenderlein, Fachberaterin im Bundesprojekt Sprach-Kitas:

Anne:

Liebe Frau Dr. Wehrmann, schön, dass Sie sich noch mal Zeit nehmen, um  noch bestehende Fragen aus dem Auditorium zu beantworten. 

Wie geht Revolution für unsere Kinder?

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, ich glaube, indem wir als Gesellschaft, als Anwälte für Kinder auftreten, Erzieher, Eltern, Großeltern, Freunde und auf die Bedürfnisse von Kindern aufmerksam machen, stellvertretend für sie. Aber ich glaube auch, dass große Kinder auch schon gut selbst beschreiben können, was sie sich wünschen und ich finde, unser Land muss kinderfreundlicher werden. Dafür brauchen wir ein breites Bündnis für Kinder in unserem Land – eine „Friday for future“, Initiative, für das, was Kinder brauchen. Es kann nicht sein, dass in einem der reichsten Länder der Erde, immer noch weniger für Bildung ausgegeben wird, für die frühe Bildung vor allem, als in anderen Länder. Darum wünsche ich mir ein breites Bündnis von unten – eine Revolution für Kinder.

Sie werden in 20-25 Jahren weltweit ihren Arbeitsplatz finden müssen, nicht mehr nur in Deutschland und wie Goethe sagt, dafür brauchen sie „Wurzeln und Flügel“. Und das heißt, sie brauchen die besten Rahmenbedingungen, die es geben kann und Erzieher*innen sind Zukunftsgestalter eines Landes.Die Entwicklung von Kindern darf nicht von der Finanzkraft einer Kommune und dem Familienbild eines Bürgermeisters abhängig sein. Wir müssen für Rahmenbedingungen streiten, stellvertretend für Kinder.

Anne:

Das stimmt, das machen Sie ja jeden Tag.

Sie sind auch für den „Bau“ von Kitas zuständig: Haben Sie da ein Mitspracherecht bei den Rahmenbedingungen? Personal-Kind-Schlüssel? Gruppenstärke der Kinder?

Dr. Ilse Wehrmann:

Ich habe, glaube ich, ein großes Mitspracherecht, was die Rahmenbedingungen des Trägers betrifft, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben in den einzelnen Bundesländern. Und ich schaue, dass wir da, wo wir jetzt Beitragsfreiheit einführen in Deutschland…das dürfte natürlich nicht aus den Augen verloren werden, aber eigentlich haben wir so viele Großbaustellen, dass wir zur Zeit alles Geld aus dem Gute-Kita-Gesetz für bessere Rahmenbedingungen brauchen, für kleinere Gruppen, für einen anderen Erzieher-Kind-Schlüssel und für eine bessere Qualifikation des Personals. Sie müssen auf europäischem Niveau ausgebildet werden. Und ich versuche, dass wir Förderkreise bilden, in den Einrichtungen, wo ich beteiligt bin. Eltern können das einzahlen können, was sie übrig haben, weil sie den Elternbeitrag sparen und dieses Geld investieren wir in mehr Qualität und andere Öffnungszeiten. Das mit den Öffnungszeiten ist vor allem ein Thema in den alten Bundesländern, die nicht bedarfsgedeckt sind und das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu wenig berücksichtigen.  Ganze Bereiche werden weiblich, wie z.B. in der Medizin, besetzt und da brauchen wir andere Öffnungszeiten als wie wir sie jetzt haben, da kann nicht um 2 oder um 3 Uhr Schluss sein in der Einrichtung. Ich will kein Stunden-Hotel, aber ich will verlässliche Zeiten für Eltern und Kinder in guten Einrichtungen. Kinder sind heute 5 / 6 Jahre in der Einrichtung, es muss ein Stückchen Zuhause für sie sein, da müssen sie gerne hingehen, da müssen sie sich wohlfühlen, da soll für sie gekocht werden, da sollen sie Nischen haben, wo sie sich verstecken können, äh, da sollen sie auch Erzieher haben, die empathisch und feinfühlig auf sie reagieren.

Anne:

Ja, manche Kinder verbringen unter der Woche fast mehr Zeit mit ihren Erzieher*innen als mit ihren eigenen Eltern.

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, und dafür brauchen wir die bestausgebildetsten Pädagogen. Erzieher sind die Zukunftsgestalter eines Landes, sie sind die Grundlagen für die ersten 6 Jahre und vieles, was wir versäumen, ist irreparabel.

Anne:

Ich habe mich gerade noch mal mit einer Kollegin unterhalten – eigentlich muss wirklich die Ausbildung verändert werden.

Dr. Ilse Wehrmann:

Ich glaube, was wir machen müssten, ist, dass wir flächendeckend weiterbildende Studiengänge einrichten für Erzieher, in Richtung Hochschulniveau, damit sie somit auch die europäische Anerkennung kriegen und dass das, was sie getan haben, an erzieherischer Praxis erfahren haben, dass man darauf aufstockt. Wenn ich an meine eigene Situation denke, ich habe Sozialpädagogik studiert, war ja jahrelang vorher Erzieherin gewesen, das war gut. Mit dem Hintergrund aus der Praxis noch neuen theoretischen Input zu kriegen und vieles noch mal zu hinterfragen.

Anne:

Wie die Form eines dualen Studiums?!

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, genau, in diese Richtung müsste es in Deutschland gehen für alle, natürlich bezahlt und für alle verpflichtend, aber dafür brauchen wir vor allem auch mehr Leute und ich glaube, wenn wir das hinkriegen, kriegen wir auch noch eine andere gesellschaftliche Bewertung. Wir bewerten in Deutschland die Arbeit an Dingen besser als die Arbeit an Menschen. Das ist ein Problem. In der Wertschätzung ein Problem.

Anne:

Das stimmt. Das passt eigentlich ganz gut zur nächsten Frage – zum Elternführerschein?

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, man muss sich auf alles im Leben vorbereiten, nur nicht auf die Erziehung von Kindern und ich glaube, Eltern sind einfach unsicher. Ich habe mal so ein Familien-Online-Handbuch mit eingerichtet. Das können Sie ja mal googlen. Da stehen viele Artikel drin und ich weiß, Eltern haben gerade immer Unsicherheiten dabei Grenzen zu setzen. Wie konsequent sollen sie mit ihren Kindern sein? Und ich glaube, das sind sie häufig nicht, weil sie einfach keine Zeit haben. Ich glaube, Kinder werden einerseits sehr streng erzogen, nerven sehr schnell und andererseits werden sie verhätschelt und ich glaube, wir brauchen die Kontinuität in der Erziehung und das liegt natürlich zum Teil an ihrer Überforderung bei Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es muss alles schnell gehen. Kinder brauchen glaube ich, dass sehe ich an meinen Nachbarkindern, das hatte ich ja im Vortrag erzählt – „Warum kommt ihr so gerne zu mir?“ – „Weil du Zeit hast und uns zuhörst!“ Ich glaube, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, sie ernst zu nehmen, sich mit ihnen zu beschäftigen, dafür haben sie ein Gespür und das würde ich gern mit einem Elternführerschein erreichen. Ich würde sogar so weit gehen, dass man das Kindergeld daran koppelt. Wie gesagt, mein Beispiel ist immer das in Nordrhein-Westfalen mit dem Hundeführerschein. Das gibt es woanders so ausführlich ja auch nicht und warum traut man immer Eltern zu, dass sie immer alles automatisch richtig machen. Wir bräuchten natürlich auch Orte, wo Eltern miteinander diskutieren können. Also, ich glaube, sie sind unsicher, in den ersten Jahren sind sie unsicher. Und in dem ersten Jahr bei Kleinkindern holt man sie am besten ab, in der Vorbereitung der Geburt und im ersten Jahr, da sind sie glaube ich am offensten für ihre Kinder und da müssten wir eigentlich ansetzen. Ich habe das übrigens auch in China erlebt, in Shanghai in einem Stadtteil, dass die sich dort sozusagen auch auf den Weg machen mussten, vom Krankenhaus aus schon, sich mit der Erziehung ihrer Kinder zu befassen. Das kostet natürlich Geld, aber ich glaube, das würde sich auszahlen und das bedeutet überhaupt nicht, dass ich alle Eltern unter Generalverdacht stelle, dass sie nicht erziehen können, sondern es geht einfach darum sensibel zu sein, was brauchen Kinder? 

Anne:

Und in Neuseeland gibt es auch einen Elternführerschein? Habe ich das richtig verstanden?

Dr. Ilse Wehrmann:

Nein, was ich in Neuseeland gut fand, dass Second-Hand-Läden an die Kitas angebunden waren, für Kleidung, aber auch was Bücher betraf und das sich Eltern treffen können, um sich über Erziehungsfragen auszutauschen.

Anne:

Ja, es ist wichtig eine Plattform für die Eltern in den Kitas zu schaffen…

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, niederschwellig, ohne Ängste, ohne großes Programm, wie kleine Stammtische, kleine Familienzentren, wo man sich generationsübergreifend treffen kann und dafür brauchen wir eine Infrastruktur. Da muss man auch mal einen Kaffee kriegen können und da müssen Eltern vielleicht auch so ein bisschen runtergeholt werden, nach einem anstrengenden Arbeitstag, bevor sie auf die Kinder losgelassen werden. Das haben wir mal in einer Kita gemacht, wo ich verantwortlich war. Da kamen immer die Väter und da haben wir denen erst mal einen Kaffee angeboten und gesagt: „Kommen sie erst mal runter und schauen sie bei ihrem Kind zu.“ Das sie sozusagen nicht gleich auf die Kinder losgelassen werden. Ich habe das mal erlebt, dass ein Kind das nicht wollte. Da hatte mal eine andere Erzieherin den Nachmittagsdienst und die wusste nicht, dass der Vater das Kind abholt und das Kind hat sich nicht zu erkennen gegeben. Das Kind sagte immer – „das ist nicht mein Vater“. Der wollte einfach noch Zeit zum Spielen haben. Und der Vater sagte: „Sag jetzt endlich der Erzieherin, dass ich dein Vater bin.“ Das hat dann die Vertretungserzieherin noch mehr verunsichert. Also dieser Junge hat das so ausgekostet noch ein bisschen da zu bleiben, ohne gleich nach Hause zu müssen. Weil Kinder kriegen die Stresssituation, den ganzen Frust vom Beruf der Eltern gleich mit und da würde ich so eine kleine Chill-Zone einbauen.

Anne:

Ich konnte es auch schon häufig beobachten wie die Kinder, morgens wie nachmittags, reingeworfen und wieder rausgezerrt wurden.

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, na ich habe neulich von einem Vater gehört: „Ja, ich werfe meine Kinder nur schnell ab.“

Anne:

Wie oft halten Sie Vorträge vor Politkern und wann war Ihr Letzter?

Dr. Ilse Wehrmann:

Vorträge vor Politikern halte ich am laufenden Band, denn es sind auch immer Politiker dabei. Aber in letzter Zeit habe ich mehr Einzelgespräche  mit politisch Verantwortlichen. Das halte ich für wirkungsvoller als sie vorzuführen, also mit Frau Giffey zum Beispiel oder der Kanzlerin. Das macht mehr Sinn. Das ist meine Erfahrung oder sie in die Einrichtung einzuladen und zu begleiten. Ich glaube schon, dass man Politiker überzeugen kann, aber das ist viel viel Arbeit für uns aus der Praxis. Das kann man nur von unten her machen.

Anne:

Sie sind auch öfter bei solchen Treffen dabei, oder?

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, am Montag bin ich zum Beispiel in Berlin bei der „Deutschen Kitapreisverleihung“, da sehe ich glaube ich alle – da sehe ich Frau Giffey, Frau Bühnbender. Da gehe ich auch hin, um mich auch einzumischen, politische Kontakte zu knüpfen, den ganzen Abend.

Anne:

Das klingt toll, Frau Wehrmann.

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, sie haben weiterhin eine gute Anwältin. Gestern war ich auch zu einem Vortrag in Berlin. 

Das ist schon auch wichtig, wenn man Kinder auch noch selber erlebt und weiß, wo es eigentlich brennt.

Anne:

Ja, das kann ich Ihnen eigentlich auch noch mal zurückgeben. Ich war am Nachmittag mit einigen Kolleg*innen im Kontakt und die haben mir alle gesagt, dass Sie ihnen aus dem Herzen gesprochen haben, da waren viele begeistert, dass Sie das beim Namen genannt haben und das gibt allen noch mal Mut. Ich habe gemerkt wie motiviert sie dann gleich waren.

Dr. Ilse Wehrmann:

Ja, wir müssen alle den Mut haben, ungemütlich zu bleiben als Pädagogen – wer soll das sonst für die Kinder tun?!

Anne:

Wir an der Basis dürfen nicht aufgeben, das bringt ja nichts.

Dr. Ilse Wehrmann:

Und ich glaube, das habe ich ja auch versucht zu sagen, das gebe ich auch gern noch mal an sie zurück, weshalb ich so gern in die neuen Bundesländer für Vorträge komme: Ich glaube, bei ihnen ist noch mal ein anderes politisches Bewusstsein. Bei uns sind viele zu angepasst und vielleicht auch zu satt, um weiter zu kämpfen für bessere Rahmenbedingungen. Sie haben Revolutionserfahrung. Das muss viel mehr rausgestellt werden, was sie geleistet haben mit der friedlichen Revolution und so was müssten wir eigentlich noch mal hinkriegen für Kinder in diesem Land. Egal, mit wem sie in Deutschland sprechen, alle haben ein Problem mit Bildung. Bei jedem Interview erlebe ich das, dass hinterher die Kameraleute zu mir kommen und sagen – „Frau Wehrmann, Sie haben total recht.“ Alle haben ein Problem, ob das Eltern, Großeltern, Geschwister sind und dieses Thema nehmen wir nicht ernst genug. Das ist kein weiches Thema, das ist eigentlich das Zukunftsthema eines Landes, gar nichts anderes als die Bildung. Ob das beim Flüchtlingsthema mit Migration ist – wer muss denn zuerst die Integration leisten? Der Kindergarten mit den Familien mit Kindern. Die bauen darauf auf. Oder digitale Bildung ist genau dasselbe. Diversität. Und das sind so Bereiche, da finde ich, hat der Kita-Bereich nicht genug Stellenwert und wird in jeder Legislaturperiode neu gedacht, in einem neuen Ressort gedacht, anstatt eine Kontinuität in den Rahmenbedingungen der politischen Zuständigkeit zu haben. Wir sind verliebt in Projekte und nicht in Langzeitwirkung. Wir brauchen einen roten Faden von 0 – 18/ 19, bis zum Abitur. Das machen andere Länder, da müssen wir gar nicht alles neu erfinden. Wir müssen nur entschlossener sein und mehr Geld in die Hand nehmen. Wir müssen einfach andere Prioritäten setzen und wir könnten das ja finanziell auch. Aber wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern wir haben ein Umsetzungsproblem.

Anne:

Frau Wehrmann, vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Ilse Wehrmann:

Frau Zschenderlein, wir halten Kontakt und starten die Revolution!

Anne:

Unbedingt! Tschüss.

Dr. Ilse Wehrmann:

Tschüss.